Die gekaufte WM und der Zwiespalt der Gefühle
Katar hat einen Katarrh, aber nicht nur der WM-Gastgeber zeigt sich angesichts der weltweiten Kritik verschnupft, sondern gefühlt die halbe Welt ist verschnupft, weil in einem Land, das die Menschenrechte nicht achtet und immer noch Frauen unterdrückt, die Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen wird. Seltsam ist allerdings, dass die Wahl auf Katar schon 2010 fiel. Damals hätte man mit weltweiten Protesten diese Entscheidung der FIFA eher rückgängig machen können als jetzt. Das Turnier verhindern zu wollen, nachdem alle Stadien gebaut und viele Gastarbeiter gestorben sind, ist unmöglich. Jetzt sollte der Sport im Mittelpunkt stehen, um die Einhaltung der Menschenrechte muss sich die Politik kümmern.
Die Politik kämpft aber ebenso mit dem Zwiespalt der Gefühle wie manche Fußball-Fans. Katar wird kritisiert, aber auch hofiert, weil es wertvolle Energie liefern kann. Viele Fußball-Fans wollen das Emirat in Vorderasien mit seinen mittelalterlichen Lebensgewohnheiten an den Pranger stellen, andererseits sich aber den Spaß am Fußball nicht nehmen lassen. Katar ist ein kleines Land, nicht größer als Hessen, mit nur rund 2,7 Millionen Einwohnern. Was erstaunt: Nur 10 Prozent sind echte Einheimische, der Rest Arbeitsmigranten, die vor allem aus Süd- und Südostasien kommen. Sie können in Katar keineswegs ein angenehmes Leben führen, wollen aber Geld für ihre Familien verdienen.
Die Entscheidung für Katar fiel beim Fußball-Weltverband bereits am 2. Dezember 2010. 14 Mitglieder des FIFA-Exekutivkomitees stimmten in Zürich für Katar, acht für die USA. Es war von Anfang eine gekaufte WM, Katar wollte diese WM mit aller Macht, griff zu allen Tricks und viel Geld. Die FIFA missachtete ihre eigenen Statuten, die von einem WM-Ausrichter die Achtung der Menschenrechte fordern. Um den Coup zu landen, wurden erstmals gleich zwei WM-Gastgeber gewählt, nämlich Russland für 2018 und Katar für 2022. Ein Gastgeber umstrittener als der andere.
Korruptionsvorwürfe wurden bald laut, Untersuchungen gestartet, sogar der FBI in den USA und die Schweizer Staatsanwaltschaft schalteten sich ein, die Hälfte der insgesamt 24 Wahlmänner der FIFA wurden mittlerweile verhaftet. Der damalige FIFA-Präsident Josef Blatter betont, dass er nicht für Katar gestimmt hätte. Sein Nachfolger Gianni Infantino, der offensichtlich mit üblen Machenschaften das Amt eroberte, zog im Hintergrund die Fäden, entzieht sich bis heute aber der Gerichtsbarkeit, wohnt mittlerweile in Katar und spricht schon jetzt von der „besten und größten WM aller Zeiten“. Dass die Verbandspräsidenten in aller Welt nichts gelernt haben, zeigt sich daran, dass Infantino vor der Wiederwahl zum FIFA-Präsidenten steht. Ein Armutszeugnis.
Aber sprechen wir über den Sport, es heißt ja hier Sport-Grantler und nicht Katar-Grantler oder FIFA-Grantler. Also Fußball-Fans, die WM könnt ihr mit ruhigen Gewissen verfolgen, ein bisschen Spaß muss sein. Die FIFA hat ja auch schon die Begeisterung gebremst, weil nachträglich das Turnier auf den Winter gelegt wurde, weil es im Sommer in Katar zu heiß ist. Auch hier wurde also getrickst. Bei der Bewerbung wurde eine Austragung im Sommer offeriert, obwohl das unmöglich war.
Tricks wollen wir künftig nur von den Spielern auf dem grünen Rasen sehen. Das Turnier könnte besonders spannend werden, denn einen klaren Favoriten gibt es nicht. Titelverteidiger Frankreich gehört ebenso zum Favoritenkreis wie Brasilien, Argentinien, Spanien, England, die Niederlande, aber auch Deutschland. In einer Umfrage des kicker sehen 25 Prozent der Leser Deutschland als Weltmeister, 20,8 Prozent sind für Brasilien, 15.4 tippen auf Argentinien und 15,3 auf Frankreich. Der Titelverteidiger muss aber gegen einen besonderen Fluch ankämpfen, seit Brasilien 1962, das auch 1958 Weltmeister wurde, hat kein Land mehr den Titel erfolgreich verteidigt. Also seit 60 Jahren! Ganz im Gegenteil, die letzten 20 Jahre ist der amtierende Weltmeister meist frühzeitig ausgeschieden, Italien 2010 (Gruppenletzter!), Spanien 2014 und Deutschland 2018 überstanden zuletzt als Weltmeister nicht einmal die Gruppenphase. Deutschland könnte dennoch einen Coup landen, denn in der ewigen Tabelle steht der vierfache Weltmeister ebenso wie der fünffache Weltmeister Brasilien bei 109 WM-Spielen, wobei Brasilien (237 Punkte) bei allen 21 Turnieren dabei war, Deutschland (221 Punkte) nur 19 bestritten hat.
Erstaunlich ist, dass deutsche Spieler und Trainer in vielen Statistiken vorn sind. Lothar Matthäus hat mit 25 die meisten Spiele bestritten, könnte aber von Lionel Messi bei einer Finalteilnahme überholt werden. Miroslav Klose ist der Rekordtorschütze (16 Treffer), sein nächster Verfolger ist Thomas Müller (10). Klose hat auch die meisten Siege errungen (17) und Helmut Schön, der Weltmeister-Trainer von 1974, die meisten Spiele (25) gecoacht. Vor einem Rekord steht auch Kapitän Manuel Neuer, er könnte der Rekord-Torwart werden, denn wenn er dreimal antritt, steht er bei 19 Spielen, den Bestwert halten bisher sein früherer Bayern-Kollege Sepp Maier und Brasiliens Taffarel mit je 18 Spielen. Die Bayern holten auch den aktuellen Rekord, sie stellen mit 17 die meisten Spieler ab (allerdings fällt jetzt Mané verletzt aus). Auf Platz zwei kommen Manchester City und der FC Barcelona mit je 16, danach folgt Katars Meister Al-Sadd (15), der praktisch die Nationalmannschaft stellt. Bei Katar stellen nur sechs Vereine Spieler ab, Kamerun dagegen rekrutiert das Nationalteam aus 26 Vereinen!
Am Sonntag, 17.00 Uhr (MEZ), geht es mit dem Eröffnungsspiel Katar gegen Ecuador los. Bezeichnend, dass auch diese Begegnung kurzfristig von Montag auf Sonntag vorgezogen wurde, um ein echtes Eröffnungsspiel zu haben. Deutschland startet am Mittwoch, 14.00 Uhr, gegen Japan in die WM. Ein guter Auftakt wäre wichtig, obwohl der letzte Test gegen Oman (1:0) nicht unbedingt Mut macht. Es folgen Spanien (Sonntag, 20.00 Uhr) und Costa Rica (Donnerstag, 1. 12., 20.00 Uhr) als weitere Gruppengegner. Platz zwei ist zum Weiterkommen notwendig. Im Achtelfinale folgt ein Gegner aus der Gruppe F mit Belgien, Kroatien, Kanada und Marokko. Im Viertelfinale könnte Brasilien der Gegner sein!
Acht Stadien hat Katar gebaut, es wird also eine WM der kurzen Wege. Drei bis vier Milliarden Euro soll das Scheichtum investiert haben, ein Teil der Stadien wird danach sogar abgebaut, soll zum Teil aber an ärmere Länder verschenkt werden. Die WM in der Wüste und im europäischen Winter wird also auf jeden Fall eine seltsame Angelegenheit. Konzentrieren wir uns zu Hause auf den Sport und hoffen auf gute Spiele mit viel Spaß. Ein Boykott vor den Bildschirmen ist sinnlos.