Der schwerste Tag vor der WM
Bundestrainer Joachim Löw ging mit der Gelassenheit des alten Hasen und des Weltmeisters an die undankbarste Aufgabe eines Trainers heran: Die Reduzierung des Kaders, die Bekanntgabe der Streichliste. 27 Spieler durften sich zu Beginn des Trainingslagers in Girlan/Südtirol Hoffnungen auf die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland machen, aber es war klar, dass vier nicht mitfahren könnten. Rund 20 Spieler konnten sich ihrer Sache sicher sein, der Rest trainierte zwischen Hoffen und Bangen.
Jogi Löw steht alle zwei Jahre vor einer Welt- oder Europameisterschaft wie alle seine Kollegen in der ganzen Welt vor dieser undankbaren Aufgabe. Es ist der schwerste Tag vor der WM. Mit menschlichem und taktischem Feingefühl ging er die Aufgabe schon Tage vorher an, mit dem Geständnis: „Mein Job ist es leider auch, Träume platzen zu lassen.“ Und dann verteilt er „Zuckerl“, lobt die Gestrichenen, so dass man manchmal erstaunt ist, warum der Trainer auf so einen wertvollen Spieler überhaupt verzichtet. Aber er sorgt auch für Überraschungen. So strich er diesmal Torhüter Bernd Leno aus Leverkusen („Er war 2016 dabei, diesmal nehmen wir Kevin Trapp mit, sie stehen auf einem Level“), es war ihm egal, dass Leno im Gegensatz zu Trapp wesentlich mehr Spielpraxis hatte. So traf es gleich zwei Leverkusener, denn Jonathan Tah war von vornherein erster Streichkandidat, er war der Backup für den verletzten Jerome Boateng, dessen WM-Teilnahme nun sicher ist. Bei Torjäger Nils Petersen war es ähnlich, er erhielt den Vorzug vor Sandro Wagner, durfte reinschnuppern und verabschiedete sich still. Da ging Löw wohl einem Krach im Trainingslager aus dem Weg, nachdem Wagner seine Nichtnominierung für den WM-Kader ziemlich forsch und lautstark kritisiert hatte. Löw ahnte das wohl.
Viele stellen sich die Frage, warum das 22-Jährige Talent Leroy Sané nicht dabei ist. Sein Marktwert beträgt 90 Millionen Euro, er war damit der teuerste Spieler im WM-Kader und „Rookie of the Year“ in der Premiere League in England. Sein Trainer Pep Guardiola hält große Stücke auf ihn und Ex-Kapitän Michael Ballack twitterte wohl stellvertretend für viele, dass es unverständlich sei, auf Sané zu verzichten und er schrieb „kein Sane-Tag von Löw“. Der Bundestrainer aber verteilte eben „Zuckerl“: „Es war eine knappe Entscheidung gegenüber Julian Brandt, sie sind fast auf gleicher Höhe, es konnte aber nur einer mitfahren.“ Was er nicht sagte: Brandt ist pflegeleichter, hat nicht so seinen eigenen Kopf wie Sané und arbeitet disziplinierter.“ Er wird still auf der Weg sitzen, ohne saure Miene. Aber: Wer jetzt zu Hause bleibt, darf künftig doch wiederkommen. Ob Leno, Tah, Petersen oder Sané, ab September steht ihnen die Tür zur Nationalmannschaft wieder offen.
Mit der Bekanntgabe des Kaders war auch das große Thema der vergangenen Wochen abgeschlossen. Der „Fuß der Nation“ hat gehalten, Kapitän Manuel Neuer kehrte nach neun Monaten zurück, als ob er nie fortgewesen sei. Es ist das Schicksal des Marc-Andre ter Stegen, dass der beste Torhüter der Welt vor ihm steht. Er muss warten, er ist 26 Jahre alt, Neuer ist 32. ter Stegen teilt das Schicksal vieler Torhüter, die warten müssen, bis ihr großer Vorgänger abtritt. Auch ter Stegen ist Weltklasse, gehört ebenfalls zu den Besten der Welt. Vorteil Neuer: Er ist Kapitän, hat eine unvergleichliche Ausstrahlung, hat das Torhüterspiel auf ein neues Level gehoben und gilt als erster Spielmacher des Aufbauspiels. Und er ist Weltmeister, er ist Titelverteidiger. Neun Weltmeister sind noch dabei, 23 Spieler im DFB-Kader hoffen auf eine erfolgreiche Titelverteidigung. Und Jogi Löw natürlich.
Übrigens: Das 1:2 nach dem Gewitterregen in Klagenfurt gegen Österreich sollte die Fußball-Fans nicht erschüttern. Lasst den Österreichern den Jubel, aber es hat schon Tradition, dass das DFB-Team vor einem Turnier schwache Spiele abliefert. Es hat aber genauso Tradition, dass Deutschland eine starke Turnier-Mannschaft ist. In Form sind auch andere nicht, so klagten auch die Gruppengegner Mexiko, Schweden und Südkorea über eine schwache Vorbereitung. Aber es gab auch Jubel. Brasilien freute sich über das Comeback von Neymar, der teuerste Spieler der Welt ist der Hoffnungsträger auf den Titelgewinn. Und Ägypten hat Liverpools Pechvogel Salah im Kader, der seine Schulterverletzung vom Finale der Champions League rechtzeitig auskuriert haben soll. Vom Titel träumt man in Ägypten deswegen aber nicht. Auffallend auch: Gastgeber Russland verzichtet auf deutsche Unterstützung, Roman Neustädter und Konstantin Rausch wurden aus dem Kader gestrichen. Dabei hatten sie (beide russischer Vergangenheit) extra die russische Staatsbürgerschaft angenommen, hatten sich aber wohl zu sehr als Russen gefühlt. Ein nicht genehmigter Disco-Besuch stieß sauer auf. Pech gehabt. Da konnte Jogi Löw seine Entscheidungen zum Glück nach anderen Kriterien treffen.