Aufatmen: Die Ära Löw ist vorbei!

von knospepeter

„Todesgruppe“ wurde sie genannt, die Gruppe F bei der Fußball-Europameisterschaft mit Weltmeister Frankreich, Europameister Portugal und Deutschland und, nun ja, Ungarn. Das Achtelfinale brachte allerdings etwas anderes ans Licht: Es war wohl die schwächste Gruppe der EM, keiner ist mehr dabei! Frankreich scheiterte nach einer 3:1-Führung an der eigenen Überheblichkeit und schied im Elfmeterschießen gegen die Schweiz aus, Portugal hatte dem Kampfgeist Belgiens beim 0:1 nichts entgegenzusetzen und Deutschland machte England glücklich. 0:2 im Wembley-Stadion, nach 55 Jahren besiegte England die „Germans“ endlich wieder bei einem Turnier. Kein Wunder, dass auch Ungarn haderte, das denkbar knapp die Segel streichen musste.

Katzenjammer überall, in Deutschland mischt sich allerdings auch Hoffnung mit der Enttäuschung. Hoffnung, dass mit dem künftigen Bundestrainer Hansi Flick eine neue, erfolgreiche Ära im deutschen Fußball beginnt. Aufatmen, dass die Ära Löw endlich vorbei ist. Der 61-Jährige war 15 Jahre lang Bundestrainer, die einen sagen, er war sieben Jahre zu lang im Amt, die anderen, dass er spätestens nach der WM-Pleite 2018 in Russland mit dem Ausscheiden in der Vorrunde zurücktreten müssen. Seitdem herrschte Stillstand beim DFB-Team obwohl Joachim Löw vom Aufbau für die Zukunft sprach. Doch an diesem Aufbau ist er gescheitert, er hatte keinen Plan, machte eher einen unsicheren Eindruck und war von den erfolgreichen Jahren weit entfernt. Seit 2006 fünfmal bei Europa- und Weltmeisterschaften im Halbfinale, dabei 2008 im EM-Finale und 2014 Weltmeister – eine Bilanz, die sich sehen lassen kann. Doch danach kam nichts mehr, was bleibt, ist dennoch eine beeindruckende Statistik: 198 Spiele, 124 Siege, 40 Unentschieden, 34 Niederlagen, 467:200 Tore. Und trotzdem: Auf einer Stufe mit Sepp Herberger und Helmut Schön wird Joachim Löw in der Erinnerung nicht stehen.

Die Europameisterschaft 2021 war von Anfang an ähnlich verkorkst wie die WM 2018. Zwar war angeblich die Stimmung im Team besser, aber auf dem Feld wurde dies nicht deutlich. Der 4:2-Sieg über Portugal wurde gefeiert, doch zeigte sich, dass dies eher der Schwäche des Gegners geschuldet war, das 2:2 gegen Ungarn und das Weiterkommen waren glücklich, das Ausscheiden gegen England legte die Schwächen bloß. Vor allem die Schwächen des Trainers, der am Spielfeldrand zögerlich agierte, der die Mannschaft ohne eingespielten Plan ins Turnier schickte. Die Dreierkette konnte nicht eingeübt werden, entsprechend orientierungslos agierten oft die Abwehrspieler. Auswechslungen erfolgten zu spät, der erfahrene Coach wirkte unsicher wie ein Anfänger. Mit dieser Mannschaft wäre zweifellos mehr möglich gewesen.

Nachfolger Hansi Flick hat nun die schwere Aufgabe, eine neue Mannschaft aufzubauen, aber gleichzeitig auch die Qualifikation zur Weltmeisterschaft 2022 in Katar zu bewältigen. Die Gegner gelten zwar nicht als hohe Hürden (man kann sich täuschen, siehe „Todesgruppe“), doch auch da hat ihm Löw die schwere Hypothek der Niederlage gegen Nordmazedonien (!) hinterlassen. Er wird sicher auf Hoffnungsträger wie Havertz, Musiala, Wirtz oder auch Sané setzen, doch das Puzzle wird nicht einfach und die Frage ist auch, welche Routiniers weiter zur Verfügung stehen und auf welche er überhaupt setzt. Thomas Müller hat er bei Bayern wieder in Form gebracht, auf ihn wird er wohl (wenn Müller es will) weiter setzen. Darauf hoffen ja die Fans, dass Flick das DFB-Team so erfolgreich macht wie die Bayern.

Gewinner und Verlierer

Das frühe Ausscheiden lässt nichts anderes zu, in der deutschen Mannschaft gibt es mehr Verlierer als Gewinner. Die Gewinner lassen sich gerade mal an einer Hand abzählen. Es war vor allem Kai Havertz, der als einziger im Angriff nicht enttäuschte. Robin Gosens wurde mit seinem Auftritt gegen Portugal zum Liebling der Nation und für den Löw u. a. auf die Dreierkette umstellte. Dazu zählt auch Leon Goretzka, zuerst verletzt, der dann aber zeigte, dass er Schwung ins Mittelfeld bringen kann anstelle der betulichen Kroos/Gündogan. Ja, auch Thomas Müller gehört dazu, der das Kommando übernahm und als „Radio Müller“ zum Co-Trainer auf dem Platz wurde, leider vergab er gegen England die dicke Chance zum Ausgleich. Er hätte der Held sein können. Ein kleiner Held war der forsche Jamal Musiala gegen Ungarn, der den wichtigen Ausgleich einleitete, ein Zeichen für die Zukunft. Davon abgesehen gehört auch Hansi Flick zu den Gewinnern, weil er es nur besser machen kann als aktuell Jogi Löw.

Nicht richtig einzuordnen sind Mats Hummels (als Abwehrchef, aber auch Eigentorschütze) und Joshua Kimmich (rechts durchaus stark, wäre aber lieber in der Mitte geblieben), teils Gewinner, teils Verlierer. Zu den Verlierern zählt aber auch Kapitän Manuel Neuer, der ein unscheinbares Turnier spielte, sich nicht auszeichnen konnte und keine Retterrolle einnahm. Verlierer waren vor allem Toni Kroos und Ilkay Gündogan im Mittelfeld, sie bremsten das Spiel, brachten keine Struktur ins Team. Vielleicht treten beide zurück. Antonio Rüdiger zeigte ebenfalls nicht die Leistung wie im Verein, war oft orientierungslos, Serge Gnabry konnte die undankbare Rolle als Mittelstürmer nicht ausfüllen, Timo Werner war nicht einmal ein Mitläufer und Leroy Sané zeigte wieder einmal sein Talent, aber keine Leistung. Ob er wirklich ein Mann für die Zukunft ist?

Der Rest konnte sich gar nicht zeigen oder nur kurz wie Volland, Can, Süle oder Halstenberg. Der Kader war größer als normal, 26 statt 23 Spieler, aber Jogi Löw nutzte diese Tatsache nicht. Insgesamt, war also der Bundestrainer der größte Verlierer des Turniers! Was er in der Zukunft machen will, ließ er offen. Zunächst will Löw mal zur Ruhe kommen. Er wird sie brauchen.

Ab dem Viertelfinale fehlen also viele große Nationen. Das Achtelfinale lief und unter dem Motto „Mit heißem Herzen, sonst gibt es Schmerzen“ ab, viele sogenannte kleinen Nationen machten den großen, die zur Überheblichkeit neigten, das Leben schwer. Viermal ging es gleich in die Verlängerung, mit Kampf lässt sich einiges erreichen. Mit Frank de Boer bei der Niederlande trat neben Jogi Löw ein weiterer Trainer zurück, Didier Deschamps ist in Frankreich umstritten. Am Freitag in München spielt jetzt nicht Deutschland, sondern das Viertelfinale heißt Belgien – Italien, zwei Favoriten, in St. Petersburg will die Schweiz Spanien ärgern, am Samstag in Baku treffen Tschechien und Geheimfavorit Dänemark aufeinander und in Rom wird England jetzt von der Ukraine geprüft, noch so ein Überraschungsgast im Viertelfinale. Die Europameisterschaft hat also weiterhin ihren Reiz, inwieweit für die deutschen Fans, das wird sich zeigen. Sie warten vielleicht eher mit Spannung auf Flicks Premiere im September.

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