Die neuen Bayern und der Ritt auf der Rasierklinge
von knospepeter
Nach dem Triple 2020 bzw. dem Gewinn von gleich sechs verschiedenen Pokalen war die Saison 2021 ernüchternd für den FC Bayern München: Es blieb nur die Deutsche Meisterschaft. Immerhin war es die neunte hintereinander, doch ob die zehnte auch noch folgt? Das Jahr 2021 wird später mal als Jahr der Zäsur beim Deutschen Fußball-Meister in den Geschichtsbüchern verzeichnet sein, doch was danach geschrieben werden kann, steht in den Sternen. Auf jeden Fall gibt es zur neuen Saison die neuen Bayern, doch wie erfolgreich werden sie sein?
Die Zäsur ist schon bemerkenswert, das Erfolgsgespann Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge ist endgültig Vergangenheit. Ebenso seinen Abschied nahm Triple-Trainer Hansi Flick, dem die Atmosphäre nicht mehr behagte und der dankbar die Chance des Bundestrainers nach dem Rücktritt von Joachim Löw ergriff. So war der Juli geprägt von Neuvorstellungen. Am 1. Juli war offizieller Amtsantritt von Oliver Kahn als neuer Vorstandsvorsitzender und Nachfolger von Rummenigge, der seit 2002 diese Aufgabe wahrnahm und Kahn über Monate hinweg eingearbeitet hat. Nur wenige Tage später, am 7. Juli, wurde auch Julian Nagelsmann als neuer Trainer und Flick-Nachfolger vorgestellt. Er war der Wunschtrainer des neuen Dreigestirns in der Führung, das das Sagen hat,nämlich neben Kahn noch Bayern-Präsident Herbert Hainer und Sportvorstand Hasan Salihamidzic, der als Blitzableiter dienen muss, wenn Neuzugänge nicht einschlagen, aber dann gern betont, „wir haben das gemeinsam entschieden“. Das wird auch in Zukunft so sein, doch wie werden die Entscheidungen aussehen?
Hansi Flick wagte sich mitunter in der Öffentlichkeit weit vor, wenn er moserte, dass seine Wünsche nicht erfüllt werden. So war es vor der letzten Saison, als er eine zu dünne Personaldecke anmahnte und einige Spieler als Ergänzung, aber keineswegs als Verstärkung bekam. Das war ein Teil der atmosphärischen Störungen, die im Streit mit „Brazzo“ Salihamidzic ihren Höhepunkt (und Abgang!) fanden. Der junge, erst 33-jährige Nachfolger Julian Nagelsmann hält sich da zurück und sagt devot: „Der Verein hat den Hut auf, ich arbeite mit dem Kader, der mir zur Verfügung steht.“ Aber die Ziele ändern sich nicht, das weiß auch Nagelsmann: „Bayern will immer Titel gewinnen“. Nagelsmann auch, deshalb wechselte er von Leipzig nach München und nicht, weil 60 Kilometer seine Heimatstadt Landsberg liegt und er als Kind schon Bayern-Anhänger war.
Aber was den Kader angeht, so sieht es eher schlechter als besser aus gegenüber dem Vorjahr. Immerhin sind die Abgänge von David Alaba, Jerome Boateng und Javi Martinez zu verkraften. In der Abwehr, die in der letzten Saison erschreckend viele Gegentreffer kassierte, herrscht Notstand, zumal jetzt auch noch die vorgesehenen Stammspieler Alphonso Davies und Lucas Hernandez bis mindestens Mitte August verletzt ausfallen. Fraglich ist auch, ob Neugang Dayot Upamecano mit gerade 22 Jahren gleich die Rolle als Abwehrchef spielen kann, zumal es noch zusätzliche Fragezeichen gibt: Ob die Stammkräfte Niklas Süle, Leon Goretzka und Kingsley Coman bleiben, ist noch unsicher, die Verträge laufen zwar noch, aber über ihre Verlängerungen wird verhandelt und ablösefrei sollen sie in den nächsten Jahren nicht gehen. Oliver Kahn muss zum Amtsantritt zunächst also Probleme lösen.
Der frühere Torhüter-Titan will heute das Geld festhalten wie früher die Bälle. Er verweist im Duett mit Präsident Hainer darauf hin, dass die Corona-Pandemie auch die Kasse der Bayern geleert habe, von einem üppigen Festgeldkonto ist keine Rede mehr, sondern von 150 Millionen Euro Verlust und da waren Ausgaben von 40 Millionen für Upamecano und 15 Millionen (plus ?) für Nagelsmann schon die Grenze. „Er sei nicht naiv und wisse, wie absolute Topspieler bezahlt werden, aber wir haben die Grenzen definiert,“ lässt Kahn wissen. „Der Vielfraß setzt sich auf Diät“ titelte deshalb die Süddeutsche Zeitung. Gut möglich also, dass begehrte Spieler wie Goretzka und Coman Angeboten reicher Vereine noch erliegen. Es wird für Kahn und die Bayern ein Ritt auf der Rasierklinge bei der finanziellen und sportlichen Abwägung. Mit einem Mini-Kader werden in einer weiteren strapaziösen Saison Pokalgewinne und Meisterschaften dann fast zur Glückssache. Ziel Nummer 1 ist aber klar benannt: Die zehnte deutsche Meisterschaft in Folge!
Nach den ersten Trainingstagen nimmt der FC Bayern am Samstag mit dem Testspiel gegen den Liga-Rivalen 1. FC Köln den Spielbetrieb wieder auf. Gladbach, Ajax Amsterdam und Neapel sind weitere Gegner im Vorfeld vom Bundesliga-Start am 13. August in Gladbach. Von einem Meisterteam kann vorerst keine Rede sein, denn die EM-Teilnehmer fehlen noch. Aber auch das Abschneiden bei der Europameisterschaft sollte als Warnung dienen: Alle Bayern-Akteure schieden im Achtelfinale aus, Konkurrent Borussia Dortmund war dagegen mit sieben seiner Spieler im Viertelfinale vertreten! So darf man gespannt sein. welches Team die Bayern zunächst stellen. Mit Rückkehrer Sven Ulreich im Tor, mit einer Abwehr mit Upamecano, Talent Nianzou, Rückkehrer Chris Richards und Neuzugang Omar Richards. Der spielte zuletzt übrigens beim englischen Zweitligisten FC Reading und gilt als Mann der Zukunft. Ex-Dortmund-Star Hakimi, der jetzt in Paris landete, war den Bayern zu teuer. Bezeichnend, billig statt teuer – und gut genug? Mit Youngstern und vielleicht Rückkehrern wie Joshua Zirkzee (aus Parma) und Michael Cuisance (Marseille), die beide dort nicht glücklich wurden, werden große Erfolge wohl fraglich. Die Achse Neuer-Kimmich-Müller-Lewandowski allein wird es wohl kaum richten können.
Wohin führt also der Weg des FC Bayern München, der ja auch einen Rückschlag insofern verkraften musste, als dass er kampflos den Abstieg der zweiten Mannschaft aus der 3. Liga in die Regionalliga Bayern in Kauf nahm. Die 3. Liga galt als notwendiges Sprungbrett für Talente in den Profikader. Diesen Vorteil haben jetzt allein Borussia Dortmund und der SC Freiburg, die mit ihren zweiten Teams den Aufstieg in die 3. Liga schafften und diesbezüglich den Bayern schon mal den Rang abgelaufen haben. Es gibt also genügend Warnsignale, dass eine Weiterführung der erfolgreichen Bayern-Ära auf der Kippe steht. Vielleicht greifen Kahn und Kollegen beim Ritt auf der Rasierklinge doch noch einmal in die Kasse, um die Klasse der Mannschaft zu erhalten. Der zehnte Titel in Folge lockt.